Gedenken im Wandel – wie erinnern wir heute?

Staatlich anerkanntes katholisches Gymnasium mit
staatlich anerkannter katholischer Regelschule

Gedenken im Wandel – wie erinnern wir heute?

Gedenken im Wandel – wie erinnern wir heute?

Am 4. April 2025 jährte sich die Befreiung des KZ Ohrdruf zum achtzigsten Mal. Aus diesem Anlass organisierten die Arolsen Archives – Dokumentationszentrum über die Opfer und Überlebendes des NS-Regimes – gemeinsam mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie die Mal- und Zeichenschule Weimar eine ganztägige Gedenkveranstaltung, die nicht nur dem feierlichen Erinnern sondern auch dem Dialog gewidmet war.
Neben den offiziellen Gästen, welche bis aus den USA, den Niederlanden und Ungarn angereist waren, kamen rund 150 engagierte Schülerinnen aus Hessen und Thüringen sowie Vertreter regionaler Erinnerungsprojekte zusammen, um an genau diesem Ort der Menschen zu gedenken, die durch die nationalsozialistische Verfolgung entrechtet, entmenschlicht, ausgebeutet und ermordet wurden.
Das Außenlager Ohrdruf des KZ Buchenwald befand sich auf einem bis heute nicht ohne weiteres zugänglichen Militärgelände. Es war das erste Konzentrationslager, das von westalliierten Truppen befreit wurde. Die von den amerikanischen Soldaten übermittelten schockierenden Bilder an jenem Tag prägten sich in das Gedächtnis der damaligen und fortlaufenden Generationen ein.
Und dennoch ist dieser Teil des unwirtlich-kahlen Höhenzuges zwischen den Drei Gleichen und dem Inselsberg ein bis heute ein weitgehend unbeachteter Ort des NS Terrors geblieben – bis auf einen später erbautes Denkmal ohne sichtbare Spuren, die zum Innehalten und Erinnern einladen. Diese Leerstelle zu füllen ist eine Aufgabe, der sich Vereine und gerade junge Menschen zunehmend annehmen.
Wie bin ich dazu gekommen an dem Tag dabei zu sein: Bereits im vergangenen Jahr hatte unser Geschichtskurs die Gelegenheit, das von Arolsen Archives entwickelte digitale Lernmodul „Suspekt – Landschaft der Verbrechen“ zu erproben. Für viele von uns war es die erste intensive Begegnung mit dem Außenlager Ohrdruf, dessen Geschichte bislang wahrscheinlich in keinem Lehrplan auftaucht. Durch die virtuelle Erkundung des Geländes in der Nähe des Jonastals, das ich sonst eher auf dem Rennrad passiere, öffnete sich ein neuer, tief bewegender Zugang zu einem Thema, das nicht in der Distanz vergangener Jahrzehnte erstarrt, sondern uns auch heute herausfordert.
In einer damals anschließenden Podiumsdiskussion in der Friedensteinstiftung in Gotha mit anderen Schülerinnen sowie Birthe Pater (Arolsen Archives) und Dr. Holger Obbarius (Gedenkstätte Buchenwald) sprachen wir über unsere Erfahrungen mit dem Modul. Ich selbst äußerte damals etwas vorlaut, dass mir beim individuellen Arbeiten in der virtuellen Welt der Austausch untereinander gefehlt habe – jener Dialog, in dem eigene Empfindungen geäußert werden, Sichtweisen aufeinandertreffen und so mögliche neue Perspektiven entstehen.
Umso dankbarer war ich für die daraufhin erhaltene Einladung zur aktiven Teilnahme am Programm des 4. April.Im Zentrum des Tages stand die Frage, ob und auf welche Weise Heranwachsende heute einen Bezug finden bzw. ansprechbar sind. Wie bewahrt man Erinnerung in einer Zeit in der sie verblasst, zumal fast alle Zeitzeugen verstummt sind, schlimmste Geschehnisse immer wieder angezweifelt oder durch fragwürdige Gleichsetzungen relativiert werden?
Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, eröffnete die Veranstaltung mit eindringlichen Worten. Sie würdigte all jene, die sich für eine lebendige Erinnerungskultur einsetzen und mahnte zugleich: „Die Stimmen der Opfer müssen hörbar bleiben – gerade in einer Zeit, in der das Vertrauen in Fakten und Wissenschaft zunehmend erodiert.“
Ein Moment von besonderer Symbolik folgte auf die Kranzniederlegung. In Tandems aus Jugendlichen und Angehörigen ehemaliger Häftlinge wurden kleine Tonskulpturen niedergelegt – gestaltet nach Fotografien früherer Ohrdruf-Häftlinge und gefüllt mit Vergissmeinnicht-Samen. Der ungebrannte Ton wird mit der Zeit vergehen, die Pflanzen werden keimen – ein poetisches, stilles Gedenken, das mit der Natur weiterlebt. Unweit davon war eine Installation aus Betonstelen und Reliefs nach Abbildern der Toten zu sehen – ein Projekt einer Arnstädter Schule.
Am Nachmittag bot das Schloss Ehrenstein Raum für vertiefende Workshops. Ich nahm zuerst an einem Gespräch mit einem Nachfahren eines KZ-Häftlings teil.
Darüber hinaus wurden sehr unterschiedliche Erinnerungsprojekte vorgestellt. Eine zehnte Klasse in Hessen recherchierte die Lebensläufe hinter den Stolpersteinen im Ort und kreierte damit ein Storyboard für eine Graphic Novel über die Person. Eindrucksvoll waren auch die Ausstellung „Die Kunst des Erinnerns“ der Weimarer Mal-und Zeichenschule sowie die heitere musikalische Darbietung der Neuen Bauhauskapelle Weimar, die das keineswegs heitere Schicksal des niederländischen Musiker-Duos „Johnny & Jones“ erzählte – zweier junge Männer, die von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Ohrdruf deportiert und dort umgebracht wurden.
Den Abschluss bildete die Podiumsdiskussion, an welcher ich als Vertreterin der ESS teilnehmen durfte. Wir vier Schüler*innen aus verschiedenen Schulen schilderten unsere persönlichen Zugänge zur Erinnerungskultur und berichteten aus persönlichem Erleben von ihren jeweiligen Projekten. Der Fokus meines Beitrags lag dabei auf unserem Theaterstück „Asking the pope for help“, welches wir im vergangen Jahr anlässlich des Deutschen Katholikentages auf die Bühne gebracht hatten. Auch die anderen Schüler*innen interessierte dieses Projekt stark und es wurden einige Nachfragen gestellt.
Es war ein intensiver, nachdenklicher, aber auch ermutigender Austausch, der mir erneut gezeigt hat: Geschichte ist in dieser Hinsicht nichts Abgeschlossenes. Sie lebt durch unseren Bezug zu ihr – und durch unser Handeln im Sinne der aus der Erinnerung gewonnenen Lehren. Erinnerung wiederum ist nichts Statisches – sie entsteht nicht nur durch das Studium zahlreicher Dokumente – vielmehr durch Interaktion, Begegnung, Austausch mit Gleichgesinnten, die bereit sind, sich aktiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Der Tag in Ohrdruf war insofern nicht nur ein Sich-In-die-NS-Zeit-Zurückversetzen, sondern auch ein Anstoß für heute. Ein Auftrag das Erinnern weiterzutragen – im Gespräch, im Widerspruch, im Alltag. Denn nur wenn wir mit dem historischen Wissen auch hinschauen können wir verhindern, dass sich dunkle Geschichte wiederholt.

Leonor Heinitz

 

Joachim Schindler

Edith-Stein-Schule Erfurt